Eine sexuelle Beziehung mit dem Fahrradsattel

‚Treib Sport oder bleib gesund‘ ist nicht direkt ein geflügeltes Wort, ein solches muss auf eine konkrete Quelle rückverfolgbar sein, aber dennoch eine beliebte Redewendung und in ihrem Ansatz nicht direkt falsch.

Als Freizeitsportler ist man doch stets der Verschaukelte.
Während der Couchpotatoe sich dank der fettigen Speisen einen Gallenstein holt, dann und wann ob der kontinuierlich steigenden Belastung auf die Knie selbige operativ sanieren und sich hernach kassenbezahlt zwei Monate auf der Couch durch Britt und Co. zappt, kann er sich des Mitleids und uneingeschränktem Verständnis der Umgebung gewiss sein.
Auch der leicht adipöse Mittvierziger, welcher im Fitness-Center auf einem Klappstuhl sitzt, Espresso schlürft und mit seinen Kollegen das Fussballspiel vom Vorabend im Detail durchgeht, hat da irgendwas falsch verstanden, aber die Kasse begleicht anstandslos sein Abonnement.
Der Freizeitsportler kriegt für seine sündhaft teuren Laufschuhe keine Kassenrückvergütung, behandelt seine Zipperlein durch entzündungshemmende Cremes, rezeptfreie Medikamente, selbst bezahlte Physiotherapien, teure Schuh-Gel-Einlagen und allerlei Bandagen inklusive dem Richtig-Tapen-Buch. Nicht nur weil die Tapes was nützen sollten, dank der modischen, poppigen Farben sieht jeder, dass man Leistungssportler ist, auch wenn man eben nur dynamisch am Eisstand in der Schlange steht.
Dies alles nur, damit man gleich morgen Abend wieder lossprinten kann um weiteren Raubbau an seinem Körper zu betreiben.

Eigentlich will ich gar nicht jammern. Wann immer ein knieoperierter Fernsehsportler seine Gallensteine über zwei Wohnetagen die Treppe hochgeschleppt hat, sich keuchend an das Geländer hängt und den japsend gewonnen Sauerstoff zu neunzig Prozent damit verbraucht die gotteslästerlichsten Flüche in Richtung mehrstöckige-Häuser-bauende Architekten zu senden und den Mieter höchstpersönlich dafür verantwortlich macht, dass sich kein Lift in diesem Bauwerk befindet und er mit böswilliger Absicht ins Hochparterre gezogen ist, immer dann fühle ich mich eigentlich schon wohl in meinem mit Tapes und Bandagen fixierten Körper.

Normalerweise ist Doktor Google derjenige, welcher einem bei einem Juckreiz ob der zweiten Rippe die absolut tödliche Diagnose stellt und jeden Surfer zum Hypochonder werden lässt. Nicht so diesmal, als mir eine tolle Webseite gar ein kostenloses E-Book zur Verfügung stellt um meinen drohenden Fersensporn mit Dehnübungen, drücken und wiegeln sowie dem Balanceakt auf einer gefrorenen PET-Flasche wieder zum Verschwinden zu bringen.
Während ich mich samstags behände aus dem Bett schwang um hernach der Länge nach hinzuklatschen weil links die Achillessehne zu reissen drohte und rechts die Ferse mit einer Faser meines Bettvorlegers in Berührung kam, war es sonntags schon angenehmer. Man muss nur den Druck auf der Blase ignorieren, sich zehn Minuten Zeit nehmen und vor dem Aufstehen sämtliche Gehwerkzeuge dehnen und strecken, dies den ganzen Tag mehrfach wiederholen und abends nochmals eine halbe Stunde.
Nicht mein Ding, weswegen ich den Fachhändler meines Vertrauens aufsuchte. Jener, welcher mir schon die Achillessehne-reparierenden Wunderschuhe verkauft hatte, so hoffte ich jetzt auf einen weiteren von kleinen koreanischen Kinderfingerchen gefertigten Zauberschuh.
Ob ich schon die Physio besucht hätte, war seine Frage, gleich nach dem Schulterzucken. Eigentlich nicht, um dies zu vermeiden wäre ich ja hier.
Man könne mit den Schuhen nur einen Fersensporn vermeiden, aber nicht kurieren, aber ich solle mal diese Gel-Einlagen versuchen.
Voller Tatendrang sprintete ich los, um nach einer kleinen Schleife und 890 Metern von der anderen Seite wieder leicht hinkend ins Haus zu schleichen. Etwas peinlich, wenn man vom Lauftrainung zurück kehrt und die Dame im Smartphone just in diesem Moment lautstark die zurückgelegte Distanz bekannt gibt.

Wie dem auch sei, nach einer Woche herumsitzen zwickte die Hose, die Decke fiel mir auf den Kopf und ich stieg auf radfahren um. Nicht zuletzt, weil mir Bella dies auch nahelegte und wenn einem eine Frau die Wiederaufnahme einer sportlichen Tätigkeit empfiehlt, dann gewiss nicht aus gesundheitlichen Aspekten.
Biken nennt man dies ja, ich besitze kein Rennrad. Auch keinen Helm. Wie auf der Skipiste wird man vom Umfeld schon einmal schief angesehen. Und wie auf der Skipiste auch, frage ich mich, was hat sich seit den Achtzigern geändert?
Abgesehen davon, dass es innerorts immer mehr Dreissigerzonen gibt, dass es mehr Radwege gibt und sich die Fahrzeuge öfters an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten weil die Bremshügel einem die Karre zusammenstauchen oder die Radarfalle den Urlaub bachab schickt. Aber heute können Kinder auch nicht mehr alleine eine Hauptstrasse überqueren, nicht mehr einen Spielplatz von einer Quartierstrasse unterscheiden und sollten ganz allgemein wie ein rohes Ei durchs Leben getragen werden. Es ist erstaunlich, dass wir noch leben.

Radfahren ist nicht mein Sport und dies nicht nur, weil trotz Polsterhose meine Kehrseite schmerzt. Aber ich habe festgestellt, dass der Schaffhauser Randen an und für sich schon noch ein schönes Gebiet ist. Wir wollen es nicht überbewerten, ich ziehe noch immer das Gebirge vor, aber wenn man Pikettdienst zu leisten hat, sollte man in der Nähe bleiben und innert nützlicher Frist in der Firma stehen können. Aber unter uns, wenn ein Couchpotatoe anruft weil er kein RTL gucken kann während ich stinkend und schwitzend mit wundem Gesäss um den Hagen-Turm kreise, kann der mich mal kreuzweise.
Als Notlösung ist das Biken schon in Ordnung. Doch nicht nur weil ich als Wanderer der Meinung bin, die Trampelpfade gehören nicht den Radfahrern, bin ich wohl etwas zu ängstlich gestrickt um den „Spass“ bei der Talfahrt in einer vernünftigen Relation mit dem Stress beim Hochtrampeln zu bringen.
Meine Schutzausrüstung besteht allerdings auch nur aus der gottgebenen Haut, den paar Knochen darunter und einer Sonnenbrille. Mein Rad hat keine hydraulischen Scheibenbremsen, ganz klassisch werden drei Franken-Bemsklötze aus dem Baumarkt gegen die leicht ovale Felge gepresst. Alleine durch den Zug an einem Bremsgriff, übertragen durch ein Stahlseilchen, welches gewiss schon 15 Jahre in Gebrauch ist. Mein Vertrauen in diese Konstruktion ist in etwa gleich gross, als würde ich mit in die Speichen greifenden Jasskarten das Rad zum Stillstand bringen wollen. Der Vorteil bei der Wahl der Wegstrecke über Wurzeln und Steine liegt aber klar darin, dass man dabei steht, was das Gesäss entlastet. Allerdings musste ich auch durch eine Beinahe-Rektal-Entjungferung die Erklärung erlangen, warum die Downhill-Biker ihren Sattel so tief angesetzt haben. Kurz überlegte ich es mir, ihnen dies gleich zu tun, sah jedoch davon ab. Die Angst, die in die Jahre gekommene Befestigungsschraube würde mir zwischen den Fingern zerbröseln und ich würde wie Karl Arsch auf einem Kinderrad den Rest des Weges hinter mich bringen,  obsiegte.
So legte ich über Wurzel und Stein vierhundert Höhenmeter zurück. Die Felge glühte beinahe, der Bremsklotz blank geschliffen wie ein Baby-Popo, das Hinterrad versah meine Rückseite mit einer Schlammspur vom Hinterkopf bis zur Kimme, im Vorderrad verfingen sich Äste und Zweige, die Federgabel ächzte und am Wegesrand lachten mich die Eichhörnchen aus.
Was für eine kluge Entscheidung, den Sattel nicht herunterzusetzen. Durch das Wahren des Sicherheitsabstand zwischen Sattel und Anus, begab ich mich in eine merkwürdige Stehhaltung, worauf sich der Schwerpunkt irgendwie einen Meter vor den Lenker verschob. Während ich die erste Wasserrille geschickt übersprang – natürlich nur mit dem Vorderrad denn selbstverständlich halten meine Füsse alleine durch die Schwerkraft auf der Pedale was einen wirklich coolen Sprung verunmöglicht – schaffte ich es mein Vorderrad bei der folgenden Pfütze herrlich tief einzugraben.
Vielleicht doch ein Glück, dass ich keine Click-Pedale habe. Nicht von Coolness geprägt, aber ich schaffte es stehen zu bleiben. Die Füsse neben dem Vorderrad, den Sattel in der Wirbelsäule, den Lenker in den Kronjuwelen und das Navi in der Leiste.
Ja, ich habe mich mit einem Navi ausgerüstet. Während mein Vater die Himmelsrichtung an den Bäumen, die Uhrzeit an den Vögeln, die Höhenmeter am Moosbefall von Steinen und aufgrund der Beobachtung von vier Cumuluswolken eine drei-Wochen-Wettervorhersage macht, ist das Blut unserer indianischen Vorfahren in meinen Venen noch einen Tick mehr verwässert und ich greife auf allerlei technischen Hilfsmittel zurück um auf dem Randen nicht verloren zu gehen. Wobei es ebenfalls mein Vater war, welcher mir als kleinen Jungen weitergab, auf dem Randen kann man sich nicht verirren. Du gehst einfach den Hügel runter, dann landest du in Hemmental oder Schleitheim und von beiden Ecken solltest du wissen wie du wieder nach Hause kommst, ansonsten wohnen dort Leute und die haben ein Telefon.
Was ich damals als unglaublich beruhigende Tatsache aufnahm – und ich war gewiss nicht das einzige Kind, welches mit solchen Weisheiten in die Wanderschuhe gestellt wurde – wäre es heute gesellschaftlich gesehen gewiss eine grobe Vernachlässigung der elterlichen Fürsorgepflicht. Allerdings, zur Verteidigung der heutigen Eltern, wir lebten auch nicht in einer Welt voller fremder Fötzel, irgendwie traute man den anderen Menschen noch über den Weg.
Nun gilt es also mein Wandernavigation-System zu amortisieren.
Mit Kabelbindern an der Lenkstange rundet es das Bild des Dorftrottels ab, welcher das Gefühl hat, er müsse mit seinem neunziger-Jahre-Mountain-Bike durch den Wald radeln.
Aber, ich bin in Bewegung!

Über RAB

Ein Schreiberling mit nüchternem Blick auf das Leben, beim Versuch, selbiges aus satirischer Sicht etwas angenehmer zu bewältigen.
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