Wie trauert man angemessen?

Soll ich nun meiner Betroffenheit Ausdruck verleihen? Oder mich betroffen geben?

Die Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ wurde Opfer eines Anschlags.

Nun sollte ich das Bild meines Blogs durch den Schriftzug „Je suis Charlie“ ersetzen. Danach drei Sätze über die Schändlichkeit dieses Tuns schreiben, die Zeitschrift Charlie Hebdo abonnieren und danach zum eigentlichen Artikel ansetzen.
Das Ereignis als wunderprächtigen Anlass nehmen, die Pressefreiheit zu loben und hart ins Gericht gehen mit den islamistischen Terroristen. Aber nicht zu hart. Wir wollen nicht die lieben Muslime bei uns erzürnen, sondern die Bösen rügen, welche es so ja eigentlich gar nicht gibt, denn nichts lieben wir mehr, als die fortschreitende Islamisierung unserer abendländischen Kultur. Gut, sie neigen schon eher zum zeuseln als die Christen, auch verbreiten sie ihren Glauben lieber mit der Splittergranate als dem Weihwasserwedel, aber in solchen Dingen sind wir sehr tolerant.
Vor allem weil sich die Christen an der Nase nehmen sollten, weil sie im dreizehnten Jahrhundert mit dem Schwert ihren Glauben verbreitet haben. Wir müssen tolerant sein, wird gerne gepredigt.
800 Jahre ist eine lange Zeit. Da möchte man sich fragen, müssen wir einem Erwachsenen Rüpel alles durchgehen lassen, nur weil wir zur Kindergartenzeit auch so richtige Rabauken waren?

Nun, ich bin zu ehrlich gestrickt.
Mir wollen keine mitfühlenden Worte einfallen. Von der Zeitschrift hörte ich heute das erste Mal. Die getöteten Angestellten kannte ich so gut, wie die 29’000 Kinder, welche täglich sterben, oder die Opfer des Anschlags auf das World-Trade-Center, oder die enthaupteten Journalisten, oder Mönche, welche sich protestierend selbst in Brand stecken.
Nennt mich einen gefühlskalten Mistkerl, aber solche Ereignisse berühren mich nicht, es müsste wohl schon jemand sehr nahestehendes zu Schaden kommen.

Über die Tatsache selber erbost und geschockt sein?

Am 17. Juli letzten Jahres wurde ein Flugzeug mit 298 Passagieren abgeschossen. Alle tot. Interessiert niemanden mehr. In Flaach wurden vor sechs Tagen zwei Kinder getötet, der Blick füllte über Tage hinweg die Hälfte der Zeitung mit Berichten. Heute kein Wort mehr. Es gab ein neues Ereignis. Mit noch mehr Toten.

Ich weiss nicht wieviele Menschen täglich einer radikalen Gesinnung zum Opfer fallen. Wir haben uns über die Jahre ein dickes Fell zugelegt. Nach der Tagesschau wird Meteo ausgestrahlt, jegliche Horrormeldungen rutschen in die Vergessenheit. Was in diesem Moment wirklich Priorität hat, eine ganz grosse Priorität, ist die Schneesicherheit in unserem bevorzugten Skigebiet, ob morgen die Sonne scheint und wir am Wochenende vielleicht spazieren können.
Noch ein Schnäppchenangebot von Inter-Discount und wir haben den Hunger in der Welt komplett vergessen.

Es ist nicht falsch, wenn der facebook-User ‚Je suis Charlie‘ als Profilfoto verwendet. Es ist nett, wenn er seine Anteilnahme ausdrückt.
Ich stelle mir einfach die Frage, wo wir die Grenze ziehen. Wann erhalten Opfer ein Gesicht und sind nicht einfach in Lumpen gehüllte Menschen irgendwo am Ende der Welt? Bei einer Distanz von sechs Stunden Autofahrt? Bei der Gewissheit, dass es ein Familienvater war? Die Mutter eines ganz kleinen Kindes? Oder genügt es, dass es eine Person aus unserer Kultur ist? Der Zivilisation?
Die Medien haben dies ganz schön im Griff. Haben unsere Emotionen im Griff. Blick sagt, wann wir weinen sollen und wann es uns nicht kümmern sollte. Wieviele Flüchtlinge ertrinken täglich im Mittelmeer? Wir wissen es nicht. In der Zeitung bestenfalls eine Randspalte und was noch viel wichtiger ist; Das sind irgendwie ganz andere Menschen als wir es sind.

Angesichts des Todes neigen wir zur Verzerrung der Tatsachen. Über die Feiertage verstarb ein Arbeitskollege.
So richtig wollte nie jemand mit ihm zusammenarbeiten. Er war sehr penibel, dementsprechend langsam, dementsprechend zogen sich die Tage in die Länge und hinter vorgehaltener Hand wurde man des Lästerns nicht müde.
Nächsten Mittwoch gehen wir geschlossen zur Beisetzung. Dieses armen Kerls, viel zu früh aus dem Leben gerissen, er, der solch ein herzensguter Mensch war, so der allgemeine Tenor.
Wird dies als Arbeitszeit angerechnet?; heisst es hinter nicht mehr ganz so vorgehaltener Hand.

Wir müssen eine Grenze ziehen, ansonsten müsste man den ganzen Tag in einer abgedunkelten Kammer sitzen, hätte nicht genug Tränen für all die Menschen, welche sie verdienen würden.
Dies anerkennt jeder. Allerdings ist man schnell mit Entrüstung bei der Hand, wenn jemand diese Grenze quer über die Fussmatte seiner Wohnungstür zieht. Ein gefühlloses Arschloch ist ein solcher.

Ganz anders als die Tageszeitungen, welche keinen Aufwand scheuen, ein solches Ereignis wirksam auszuschlachten. Aus reiner Anteilnahme.
Ganz anders als Politiker, welche gleich über die Sicherheitsaspekte und der Dringlichkeit des Polizeistaates referieren. Wie wichtig es ist, dass der Staat uns bespitzelt und wir dringend die Gesetze anpassen müssen. Wie man eben gesehen hat.

Die Zeilen mögen pietätlos aufgenommen werden.
Aber unterm Strich bin ich mit meiner Aufrichtigkeit vielleicht gar nicht solch ein Mistkerl und der Mercedesfahrer mit seinem 350’000 Jahressalär und dem hundert-Franken-Beitrag zu Gunsten von Brot-für-die-Welt auch nicht solch ein Wohltäter.

Wer will das beurteilen? Du?

Über RAB

Ein Schreiberling mit nüchternem Blick auf das Leben, beim Versuch, selbiges aus satirischer Sicht etwas angenehmer zu bewältigen.
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2 Kommentare zu Wie trauert man angemessen?

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