Die Marie Kondo des Büros

Richte es dir nur ein, wie es für dich passt; sprach er, und zeigte auf den grossen Schrank zu seiner Linken.
Ein Büro zu beziehen ist eine feine Sache. Arrangieren muss man sich damit, so man kein Erstmieter ist, dass man ein gemachtes Nest betritt.
Gewiss, der Vorgänger hat seine Topfpflanzen und das Bild des Lebensabschnittpartners eingepackt, aber das ein oder andere Motivationsbild hängt dann doch noch an der Magnetwand. Ich war erst ein wenig verunsichert. Man kennt die Arbeitskollegen noch nicht und von einer falschen Annahme ausgehend könnte ich Gefahr laufen, meinen Einstand damit zu besiegeln, dass ich das Team-Motto in Postkartenform in die Tonne trete.

„Ich gebe immer 100 Prozent. Montag 5%, Dienstag 15%…. „; es könnte durchaus ein Abteilungsleitbild sein, man weiss es nicht genau. Donnerstags besiegelte ich die 25% damit, mit einem beherzten Griff dieses dümmliche Kommuniqué standesgemäss zu entsorgen. Zusammen mit 30 weiteren Sprüchen, welche irgendwelchen grossen Dichtern, Staatsmännern und anderen illustren Personen unserer Geschichte in den Mund gelegt wurden, weil durch den Zusatz „Albert Einstein“ doch die leerste Phrase einen gewissen Tiefgang erhält.

Ganz allgemein schien es mir, dieses schmucke Büro hat nur seine Grösse, weil aus Prinzip nichts entsorgt wird. Oder wurde. Die Aktualisierung einer Telefonliste bedeutet nicht, dass man die alte entsorgt. Man weiss ja nie, plötzlich benötigt man die alte Rufnummer noch und da der Anschluss mittlerweile ausser Betrieb genommen wurde, hat man keine andere Möglichkeit an selbige zu gelangen, ausser der Recherche im Archiv. Deshalb kann man die Kontaktmöglichkeiten vom digitalen Anschluss bis zum Meldeläufer Konrad zurückverfolgen.
Als Legitimation, Daten und Listen über mehrere Jahrzehnte hinweg zu bewahren reicht übrigens ein einschneidendes Erlebnis. Das klassische „Do bini froh gsi, dass…“, so stattgefunden in den späten Achtzigern, rechtfertigt die noch peniblere Archivierung bis ins Jahr 2035. Es sei denn, man ist 2022 noch einmal „froh, dass…“ untermauert mit einem „Gsehsch, guet hani immer…“, dann archivieren wir bis in die nächste Eiszeit.

Mittlerweile war ich beim Menüplan des Firmenevents 2004 angelangt, welcher zusammen mit der Einladungskarte in einem Hängeregister lag. Als ich drei Register später eine Telefonnotiz an Herbert F. fand, er möge doch Konrad zurückrufen in den Fingern hielt gelangte ich zum Schluss, dass alle dazwischenliegenden Dokumente wohl in derselben Region der Unentbehrlichkeitsskala anzusiedeln sind und begann komplette Hängeregister in den grossen Entsorgungskarton zu werfen.
Ja, diesen Luxus konnte ich mir leisten, denn der letzte, welcher das Büromaterialbudget verwaltete schien nicht an die Zukunft der Digitalisierung zu glauben. 5000 Hängeregister und 20’000 Beschriftungsschilder, man verschreibt sich gerne einmal wenn die Gänsefeder bereits etwas ausgefranst ist, waren nur die Spitze des Eisbergs.

Richte es dir nur ein, wie es für dich passt; trägt im Subtext natürlich mit; Aber ändere ja nichts. Mit jedem flüchtigen Kontrollblick über die zusehends leeren Schränke wurde der Vorgesetzte ein wenig bleicher.

Mittlerweile wirken die Wände so anmächelig wie die Kacheln einer Ausnüchterungszelle. Ich bin ein grosser Freund der digitalen Daten und die Bäume werden es mir danken. Nach der dritten Korrektur einer Liste innert 4 Tagen verzichtete ich darauf, diese auf ein Blatt Papier zu pressen und an eine Wand zu hängen.
Worauf mein Vorgesetzter am 5 Tag hilfsbereit mit einer Handvoll Zettel im Büro erscheint; „ich habe gesehen, du hast die Listen nicht aufgehängt…“.

Der Schrank. Zur Hälfte gefüllt mir Erinnerungen an einen grossen Wechsel im Betrieb. Dieser wurde unter anderem begangen mit eigens bedruckten Kugelschreibern. So nett und adrett, dass man sich scheute, diese den Gästen und Besucher dieser Feierlichkeiten zu überlassen. Für spezielle Abgaben, entnahm ich einem Post-It an der Kartonschachtel.
Im Rahmen einer solch speziellen Abgabe stellte man fest, dass die Tinte ihren Aggregatzustand insofern verändert hatte, dass man seine Nachricht bestenfalls noch meisseln konnte. Also bestellte man für die Kugelschreiber für spezielle Abgaben noch spezielle Ersatzminen um im Falle einer Spezialabgabe keinen speziell peinlichen Moment zu erleben. Und so lagerten Kugelschreiber und Ersatzminen für weitere 10 Jahre und fieberten ihrem speziellen Einsatz entgegen.
Mittlerweile ist man gehemmt sie abzugeben, weil mit der Prägung nur sehr gesetzte Jahrgänge eine Erinnerung in Verbindung bringen.
Nun werden sie intern als normale Schreibgeräte abgegeben. Natürlich nicht an jeden…
Zu Ehren dieses Jubiläums wurde auch ein dickes informatives Buch gedruckt. Wahrscheinlich zur Abgabe an die oberen zehntausend unter den speziellen Gästen. Selbstverständlich legt man ein solches zurück. Erinnerungen an das Zeitgeschehen. Absolut nachvollziehbar. Deswegen wurden auch gleich 400 Exemplare zurückgelegt und füllen einen Archivschrank.

Mit in diesem Schrank fand ich einen grossen, sehr grossen Karton, randvoll mit Prägebändern. Das Zubehör für den P-Touch der Neandertaler. Der P-Touch, welcher auch Blindenschrift kann. Ihr wisst, was ich meine. Dieses pistolenförmige Ding mit grossem Drehrad zur Zeichenwahl. Der Besteller muss auch hier überzeugt gewesen sein, die Technik hätte nun den Zenit erreicht. Da kommt nichts mehr. Nach diesem Prägeapparat ist fertig. Legen wir einen Vorrat an.

Ganz allgemein scheint der Materialverantwortliche mehr zum Abholzen der Wälder beigetragen zu haben, als McDonalds und alle Tropenholzverarbeiter zusammen. Auch die Hintergründe der Ölknappheit scheinen mir geklärt.
Da lagert Schreibmaschinenpapier und Radiergummis für die nächsten 40 Jahre. Mit den Klarsichtmappen, Filzstiften und anderem Schreibmaterial in allen Farben würde ich acht afrikanische Primarschulen ausstatten, ohne dass diese zum sparsamen Umgang angehalten werden müssen. Um mit der Austrocknung Schritt zu halten, müsste ich mich hingebungsvoll der Kunst der Stillleben-Malerei hingeben.

Das Büro ist nun so leer und jungfräulich, dass ich bei jedem neidvollen Blick befürchte, es werde mir weggenommen und ich müsste in die nächste Rumpelkammer.

Ich habe mich selber zur Marie Kondo der Serverlandschaft erklärt.
Lasst mich einen Vergleich herbeiziehen. Mitarbeiter A hat einen Lagerraum A. Nun geht der Mitarbeiter A in Pension und Mitarbeiter B übernimmt dessen Job. Als erstes wird für Mitarbeiter B eine neue Lagerhalle gebaut, man nimmt Lagerraum A und packt ihn in diese Halle.
Mitarbeiter B hat die Nase voll und schmeisst den Laden hin. Mitarbeiter C kommt und als erstes baut man für ihn einen Lagerkomplex. Danach packt man die Lagerhalle B und den Lagerraum A und stellt sie in den Lagerkomplex.
Die Grenzen sind lediglich der beschränkte Platz auf der Erde.
Ach nicht? Aber genau so verfährt man auf Servern und, Hand aufs Herz, auch ihr habt auf eurem PC einen Ordner, beschriftet in etwa mit „Daten Windows 3.11, 386i“.
Suche ich ein Dokument, habe ich die Qual der Wahl, aus welchem der 25 Ordnern ich es nun entnehmen soll.
Brauche ich wirklich eine dieser digitalen Leichen, lege ich sie in einem neuen Ordner in meinem Lagerkomplex ab und lösche die anderen 25 Dokumente.
Mit der Konsequenz, dass die Nachfrage nach USB-Sticks explodiert. Weil diesem Server und der merkwürdigen Struktur nicht zu trauen ist. Da geht man lieber auf Nummer sicher.

Über RAB

Ein Schreiberling mit nüchternem Blick auf das Leben, beim Versuch, selbiges aus satirischer Sicht etwas angenehmer zu bewältigen.
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