Eine Generation von Sonderschülern

Dies gelesen…

Die Zahl der Sonderschüler steigt in Zürich markant an.

…und dies gedacht.

Und das Wasser ist nass, das muss man sich einmal vorstellen.
Ich spreche nun einmal in den Worten der alten Männer. Heute herrscht keine Disziplin mehr. Wir trugen noch Haarschnitte, nach denen man die Uhr stellen konnte. Wir räumten unseren Abfall weg, grüssten alte Menschen, boten im Bus den Platz an, trugen Beinkleider, welche die Fussknöchel bedeckten und vor allem; wir sahen zu unseren Lehrern auf! Wenn wir in der Schule aufmuckten und uns über die Sanktionen beklagten, gab es zuhause gleich nochmal eins hinten drauf!

Diese Gedanken hat jeder schon gehabt und jeder zweite spricht ihn auch aus. Zumindest ich verbalisiere es so häufig, dass ich diese Quote gut stütze, auch wenn andere damit hinterm Berg halten.

Das Witzige an der Sache; die Erzeuger dieser respekt- und disziplinlosen Brut finden sich in meiner Generation. Natürlich; deine nicht, und seine ebenfalls nicht, dennoch, es wäre nicht so, dass sich nur die Sonderschüler fortgepflanzt haben und so gehen wir elegant auf den Artikel ein.

Im Kanton Zürich gibt es einen Grenzwert von 3.5 Prozent für die Sonderschulquote. Wir sprechen da von mittlerweile 6000 kleinen Zürcher*innen…

Kleine Pause um meine politisch korrekte Schreibweise nachwirken zu lassen.

… welche in Sonderschulen gesteckt werden und damit wurde diese magische Marke überschritten.

Zuerst war ich erstaunt, dass es Sonderklassen überhaupt noch gibt, was ein schlechtes Zeugnis meines Informationsstandes ablegt. Seit man hüben und drüben nur noch von der integrativen Schulform liest, sich nicht erstaunt, dass in der Sekundarstufe B Workshops für die korrekte Schleifenbindung von Schuhsenkeln angeboten werden fragt man sich doch, ihr verzeiht die Ausdrucksweise, wie dumm muss man sein, um heute noch in eine Sonderschule zu fallen?

Obwohl ich die Frage rein rhetorisch einfliessen liess, befassen wir uns doch kurz mit der Antwort und selbige ist nicht einmal so einfach. Wohl ist die Quote gegeben, die Kriterien werden hingegen von der Schule definiert.
Die Grenze misst sich an der gesamten Klasse. Hat man also zwanzig Kinder, von denen jeder einzelne irgendwie verhaltensauffällig ist, muss der Fritz schon ganz extrem aus der Reihe tanzen um eine Sonderklasse zu rutschen. Unterrichtet man hingegen eine Klasse von kleinen Genies, ist der Hans mit seinem absolut normalen Bildungsstand schon ein Fall für die Sonderklasse.
Ein wenig überspitzt gesagt aber Fakt ist, die Schulgemeinde legt die Quote fest.

Man hat hier also frappante Unterschiede und Schulleiter von Herrliberg bis Rümlang wollen keine Aussage zur Quote treffen. Dies sei ein ganz heisses Eisen. Ein ganz heisses Eisen. EIN GANZ HEISSES EISEN.
Schulen mit einer hohen Quote klammern sich an Schulleistungen in Form von Noten, Schulen mit tiefen Quoten achten eher auf das Verhalten. Ob ein Kind sich zurück ziehe, aggressiv sei oder sich gar verweigere. Dinge eben, welche man früher mit einem scharfen Wort und einem Klapps geregelt hatte.

Man hat also eine Quote, welche so überhaupt nichts aussagt, doch will man sich jetzt bemühen, diese zu stabilisieren und zu senken. Und wer muss nun ran? Genau, die Lehrer.

Obwohl man einen Lehrplan 21 hat, muss die Lehrperson innerhalb dieses Rahmens bei einer Klasse von 20 Kindern ungefähr 12 individuelle Lehrprogramme fahren. Jedem Kind sein eigenes Tempo und einen zumutbaren Schwierigkeitsgrad. Und dennoch sollten zu Beginn der Sommerferien im nächsten Jahr alle auf demselben Stand sein.
Diese individuellen Lernprogramme sind vom System wohl im begrenztem Mass vorgesehen, schliesslich gibt es Heilpädagog*en*innen (jetzt hab ich ein Geheu) aber eben nicht für die halbe Klasse.
Das Angebot an Lehrpersonal mit heilpädagogischer Weiterbildung (geschickt die Sache mit der Gender-Schreibweise umschifft) wurde bewusst tief gehalten. Im Ursprung waren diese gedacht, Kinder mit Motivationsschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsdefiziten zu begleiten.
Mein Primarlehrer hatte ebenfalls einen Heilpädagogen für diese Fälle. Er war nur etwa 40 Zentimeter lang und eher flach aber äusserst effektiv und konnte wunderbar in der oberen linken Pultschublade verstaut werden. Wie man zu unserer Zeit die dritte Gruppe, jene mit der speziellen Begabung, betreut hatte kann ich nicht sagen. Entweder hatten wir keine, oder es waren einfach jene, welche in der zweiten Sekundarstufe zur Kantonsschule wechselten.

Mit dem Einführen der integrativen Schulform und den Heilpädagogen musste jedoch noch eine zusätzliche Gruppe betreut werden. Zahlenmässig die doppelte Schulklasse, im Alter zwischen 20 und 50 Jahren und viermal so anstrengend wie der ärgste Lehreralbtraum. Die Eltern. Dies führte dazu, dass sich ein „Abschieben“ in die Sonderklassen einbürgerte, weil weder Heilpädagogen noch Lehrer den Anfragen nach Sondersettings Herr werden konnten

Das Ziel ist jetzt, die Haltung der Lehrer zu verändern. Ihr Selbstvertrauen stärken. Sie sollen sich zutrauen, auch verhaltensauffällige Kinder ohne Unterstützung der Heilpädagogen zu betreuen.

Zwischen den Zeilen lese ich; Lehrer sowohl ohne heilpädagogische Ausbildung, nicht weiter tragisch, als auch ohne deren Entlöhnung, schon eher tragisch, sollen nun deren Aufgaben übernehmen. Die Heilpädagogen übernehmen dafür die Kinder, welche in die Sonderklasse gehören würden und sofort sinkt die Quote.
Wohl Hand in Hand mit dem allgemeinen Bildungsniveau. Stelle mir bildlich vor, wie Max in der zweiten Reihe versucht das Zehnersystem zu begreifen, während Kevin vorne links mit Schweiss auf der Stirn das eckige Holz in das runde Loch zu zwängen versucht. Und Ende des Zyklus 1 sollten beide das Prinzip von kleiner, grösser und gleich verstanden haben.

Es wäre ja nun nicht so, dass Lehrer nicht ausgelastet wären. Mit Corona müssen sie gar noch medizinische Ferndiagnosen stellen.

Sonntagabend, 21:05; Whatsapp:
Mein kleiner Kurt hat Shnupfen. Muss er nun in die Shule kommen?

21:06
Guten Abend Frau Chübelimoser. Auf der Schulhomepage stehen die Richtlinien, welche ich am Elternabend letzte Woche bereits erklärt…
Nein, zu vorwurfsvoll…
Guten Abend Frau Chübelimoser. Auf der Schulhomepage stehen die Richtlinien. Sie können selber am ehesten entscheiden, was sinnvoll wäre.

21:10
Ja, aber er hat nur leichten Shnupfen

21:11
Wenn es Ihnen möglich ist, behalten Sie doch Kurt zuhause. So gehen wir kein Risiko ein.

21:30
Geht nicht, weil wegen der arbeit wo ich eben hin muss was soll ich denn mit Kurt machen. Und er hat immer etwas shunpfen er kann ja nicht immer dihei bleiben

21:32
Gut, dann wollen wir in der Schule darauf achten, dass er vielleicht ein wenig abseits…
Nein, das geht direkt an die Schulleitung…
Gut, wir wollen in der Schule darauf achten, dass wir Kurt etwas schonen können. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen. Freundliche Grüsse ….

21:50
Wir behalten kurt zu hause meine mutter schaut

Montag 09:30
Ich komme in fünf minuten die Hausaufgaben für Kurt holen. K?

09:35
Hallo?

09:45
Frau Chübelimoser steht mit Kurt an der Hand im Schulzimmer. „Ich habe ihnen geschrieben….“

In einem Punkt liegt die Berichterstattung des Tages-Anzeigers richtig. Ich korrigiere, die ganze Berichterstattung war top – richtig entspannend nach all den Watson-Artikel – aber einen Punkt möchte ich hervorheben: Die Ursache für die hohe Sonderschulquote ist nicht alleine auf die Kinder zurück zu führen.

Ein paar kleine Regeln könnten Wunder bewirken:
1. Das Vermitteln der Lerninhalte ist die Aufgabe der Lehrperson.

2. Die Rücksichtnahme auf den Violinen-Unterricht, das Fussballtraining und den Schwimmkurs bei der Menge an Hausarbeiten und ein angepasstes gestalten des Schultages ist es nicht.

3. Eine Kontaktaufnahme mit der Lehrperson ist in folgenden Fällen erforderlich:
Wenn:
Ihr Kind krank ist
Fertig.

4. Im Besonderen ist KEINE Kontaktaufnahme erforderlich:
Wenn Kurt zu dämlich ist, 5 und 2 zu addieren, dann stellt die Lehrperson dies bei der Kontrolle der Hausaufgaben fest. Es ist unerheblich, wie lange er daran gesessen hat und ob er weinen musste.

5. Spezielle Ansage an Frau Hübeli: Der gesamte Lehrkörper hat drei Tage aufgewendet, die Frozen-Znünibox der kleinen Marie zu suchen. Wir sind zum Beschluss gekommen, ihr eine neue zu kaufen, sie können Ihre Schreiben an die Schulpflege wieder einstellen.

6. Auch ein bitzeli früher gehen kostet einen Joker-Tag. Dazu sind sie nämlich da. Sonst bestehen sie auch darauf, dass wir ihren Balg während mindestens 8 Stunden beaufsichtigen.

7. Wenn Kurt auf dem Schulweg fortlaufend verkloppt wird, wird dies unter Umständen seine Gründe haben. Definitiv ist es nicht das Problem der Lehrperson. Es sei denn, die Lehrperson hat ihn verkloppt, dann bitten wir um eine kurze Meldung an die Schulleitung, damit wir den Fall weiter beobachten können.

Ich behaupte, der Schulalltag würde ab sofort viel harmonischer verlaufen und beschliesse damit diesen politisch höchst unkorrekten Beitrag.

Über RAB

Ein Schreiberling mit nüchternem Blick auf das Leben, beim Versuch, selbiges aus satirischer Sicht etwas angenehmer zu bewältigen.
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