Wenn einer eine Prüfung ablegt

Mal wieder eine Geschichte, die das Leben schreibt

Eigentlich war alles geregelt. Ein nettes Hotel in Gehweite zum Prüfungsort gebucht. Ich sah mich schon über Mittag auf dem Bett liegen, „Punkt tfffwölffff“ auf RTL gucken und die Prüfungen vom Morgen aus dem Gedächtnis schlagen.
Die Prüfungen waren zu ganz moderaten Zeiten angesetzt. Der Morgen erlaubte ein Ausschlafen, zumindest für Menschen mit seniler Bettflucht, ein gemütliches Frühstücken und bereits Mitte Nachmittag war wieder Schluss.

Und dann kam Corona.

Die Prüfungen werden von der Firma A. durchgeführt. Ihre erste Reaktion zum Verbot von Massenveranstaltungen, bei 1’200 Prüflingen spricht man von einer solchen, war abwarten.
Danach wurden Veranstaltungen bis, nagelt mich nicht fest, 300 Personen zugelassen.
A. reagiert mit abwarten.

Im Juni teilte ich A. aus Gründen der Anonymität via meinem Lehrgangsleiter mit, sie sollten mal in die Gänge kommen. Es sei denn, bei unseren Organisations-Aufgaben der Prüfung wäre Abwarten eine adäquate Antwort. In meiner wohlfeilen Ausdrucksweise, versteht sich.
Die Antwort entsprach der klassischen A.-Reaktion. Beginnend mit „was fällt euch ein“, über „wir können auch nichts dafür“ zu „und überhaupt haben wir schon lange… guck mal richtig hin…“.
Und danach warteten sie weiter ab.
A. pflegt den militärischen Stil. „Ich will…“. Ich wäre der letzte, welcher dagegen wettert. Es ist die einzig vernünftige Methode um mehrere Individuen in einer organisierten Form an einen Punkt X zu führen. Sobald A. sich jedoch mit einem Einspruch konfrontiert sieht, speien sie Gift und Galle und betonen ihren gottgleichen Status in der Schweizer Bildungslandschaft. Die Krux ist. Wer den Titel „Specialist in Business Administration and Applied Technical Management, Federal Diploma of Higher Education“ will, kommt nicht um diesen Verein herum. Ergänzend muss man anmerken, dass die Korrektur der Prüfung sehr viel Spielraum für individuelle Ansichten lässt. Sprich, wenn sie dir eine Kröte zu schlucken geben, fragst du höchstens, ob am Stück oder häppchenweise.

Zwei Wochen vor der Prüfung setzten sie die Kandidaten von ihren beinahe übermenschlichen Bemühungen in Kenntnis und gaben einen zweiten Prüfungsstandort bekannt. Natürlich war ich einer der Betroffenen. Ausschlafen und Frühstück wurden durch zwanzig Minuten Fahrt im Basler Tram ersetzt.
Die Herausforderung sah ich bedingt in der Tramfahrt als solches, vielmehr bereitete mir der Umstand Sorgen, dass nun 435 Personen, welche die Hotels im Umfeld der Messe Basel belegten, zur selben Zeit in den Sankt Jakobs-Park verschieben wollen. Gut, Tram fahren wollte ich auch nicht, öffentliche Verkehrsmittel überfordern mich schnell einmal.
Also organisierte ich einen Chauffeur für die drei Tage.
Selbstverständlich würden sie mich gerne morgens abholen und nachmittags zurückfahren, erwiderte der Taxianbieter Arisdo. Wir vereinbarten eine Pauschale und gewiss zehnmal wies ich den Chef auf die Wichtigkeit der pünktlichen Abfahrt hin.

Dienstagmorgen, 08:00 kein Taxi vor Ort. „Oh, ist er nicht da? Er kommt gleich. Drei Minuten!“ erwiderte der Herr Ramushi auf meinen Anruf hin.
08:05. Auf sein erneutes „In drei Minuten!“ entgegnete ich, dass ich dies schon vor 5 Minuten gehört hätte.
08:10 „Wir sind komplett ausgebucht, aber ich sende den Fahrer eines anderen Unternehmens, er ist gleich um die Ecke…“.
08:13… Klingelton. Combox.
08:14… Combox.

Glück im Unglück; ein Mitschüler war von der Umsiedelung ebenfalls betroffen und ich bot ihm im Vorfeld an, mit mir mitzufahren. Was mir natürlich ein immens schlechtes Gewissen machte, als wir so verloren am Strassenrand standen.
Glücklicherweise war er mit dem Auto hier.
So rasten wir, soweit der morgendliche Stossverkehr ein Rasen eben zulässt, durch Basel in den St. Jakobspark. Inzwischen informierte ich A. prophylaktisch über eine eventuelle Verspätung. Sitzt man bei Prüfungsbeginn nicht am Pult, hat man eine eins. Sie würden die Prüfung liegenlassen, die Verspätung gehe uns einfach an der Zeit ab. Und ich hätte meinen Erstgeborenen nach ihnen zu benennen.

Bevor die Tore der Kampfarena geschlossen wurden, sprinteten wir zu unseren Plätzen und mit einem entspannten Ruhepuls von 170 machte ich mich an die erste Prüfung.

Mein Erinnerungsvermögen lässt nach, Supply Chain Management, ich meinte, es wäre nicht so übel gelaufen. Zumindest steht bei jeder Frage eine nachvollziehbare Antwort.
Im Rahmen der Vorbereitung stellte ich fest, Multiple-Choice ist mehr Fluch als Segen. Die gängige Annahme ist, bei diesen Kreuz-Test sind die Antworten bereits gegeben und im Zweifelsfall C. Also eine gemütliche Sache. Die Krux ist, bei 90% der Aufgaben musste ich sagen, es kann alles, wie auch nichts zutreffen. Das Mögliche zieht am Unmöglichen vorbei und wird zum Vermöglichbaren, oder so.
Vier Antworten, es können zwei, drei oder vier Lösungen richtig sein. Haut man auch nur ein Kreuz daneben, sprich zu viel, falsch oder zu wenig angekreuzt, hat man 0 Punkte.
In diesem „einfachen“ Teil, einen Drittel der Prüfung, kann man also schon jede Menge falsch machen.
Die 90 Minuten waren unglaublich fix durch.

Rausgehen nur, wenn unbedingt notwendig. Tragen sie Hygienemasken. Richten sie sich auf Wartezeiten beim Betreten der Halle ein. Halten sie Abstand. Desinfizieren sie ihre Hände.

Sie nahmen es sehr genau mit Corona. Sogar vor der Toilette gab es teilweise ein Einlassverbot.

Zeit umzuschauen, wer so meine Mitstreiter waren.
Wir sassen an kleinen Einzelpulten. Eine Tischfläche von 110 auf 40 cm. Im fünf Minutentakt rauschten irgendwo in der Halle Prüfungsbogen, Getränkeflaschen, Stifte, Heftapparate und ganze Etuis zu Boden. Teilweise halfen die flanierenden und kontrollierenden Studentinnen aus der Patsche und reichten einem die Utensilien. Darüber hinaus möchte ich anmerken, dass hier künftig bei der Attraktivität und Kleiderwahl gewisse Richtlinien erlassen werden sollten. Wie soll man sich da noch auf die Prüfung konzentrieren?

Die beengten Platzverhältnisse wurden zusätzlich dadurch eingeschränkt, dass stets ein Lichtbildausweis gut sichtbar auf dem Tisch zu liegen hat. Zur Kontrolle, dass man nicht seinen Lehrer an seiner Statt an die Prüfung gesandt hat.
Rechts von mir eine Ordensschwester. Zwischen den Prüfungen sass sie steif wie ein Brett auf dem Stuhl, die Hände auf dem Faltenrock im Schoss gefaltet, den Blick starr nach vorne gerichtet.
Keine Begrüssung, keine Verabschiedung, keine Erfolgswünsche. Nicht, dass ich diesbezüglich sehr initiativ gewesen wäre. Doch im Vergleich zu den anderen Prüflingen hatte ich doppelt so viele Sommer gesehen, folglich hatte sie mich zu grüssen. Nämlich.

Rechts von mir das arme Schwein, welches die erste Prüfung in den Sand gesetzt hatte. Er blätterte in den Lösungsblättern eine Seite zu wenig um, verpasste, dass das Raster einer Nutzwertanalyse mit den Kriterien bereits gegeben war und verlor Unmengen an Zeit, alles selber zu erstellen.

Die nächste Prüfung wurde geliefert.
Stets dasselbe Schema. Alle sitzen still, vorne erschallt der Befehl „Prüfung austeilen“ und die Umschläge werden auf den Tisch gelegt.
„Kandidatennummer und Prüfungsfach kontrollieren“ lautete die nächste Anweisung.
„Prüfung startet, sie haben 60 Minuten“ und an den Bildschirmen beginnt der Countdown.
Problemlösungs- und Entscheidungsmethodik.
Wer nun davon ausgeht, ein rational denkender Mensch würde hier einfach durchmarschieren liegt völlig falsch.
Ein Beispiel; Sie müssen Personalkosten sparen und 6 Personen entlassen. Wie gehen sie vor.
Eine Kosten-Nutzenrechnung wäre völlig falsch.

Erst muss analysiert werden, was ist zu tun. Mit einem bekannten Modell, Fischgräte oder was immer ihr wollt. Danach muss das Ergebnis wiederum beurteilt werden. Selbstverständlich wieder mit einer Lehrbuch-Methode. In diesem Stil geht es solange weiter, dass die Entlassung eigentlich für nichts ist, weil alleine die Analyse, wen man entlassen will und die Lohnkosten der involvierten Kader so zu Buche schlagen, dass man die sechs Personen noch zwei Jahre beschäftigen und ihnen gar ein fettes Weihnachtsgeld auszahlen könnte.

Organisieren sie ihren Tag, sie haben eine halbe Stunde Zeit.
Es gilt, alle Termine innert 8 Stunden unterzubringen. Dabei so immens wichtiges, wie die Tochter in der Kita abholen und Anzüge in die Reinigung bringen. Teilen sie die Termine in wichtig und dringend, dringend aber nicht wichtig und so weiter ein.
Als Faulen-Falle ist die Option gegeben, Tätigkeiten zu delegieren.

Vielleicht fühle ich mich im Allgemeinen zu Höherem berufen. Nach einem ersten Durchlauf hatte ich von einem Business-Lunch und einer kleinen Besprechung am Nachmittag abgesehen keine weiteren Pflichten mehr. Es schien mir nichts so wichtig, dass meine Anwesenheit erforderlich gewesen wäre. Also begann ich nochmals von vorne, die Bildschirme wurden bereits rot. Dies bedeutet noch 15 Minuten Zeit.
Im Endeffekt trug ich mir doch den ein oder anderen Termin in die Agenda ein.

Mittagspause.
435 Personen stürmen den örtlichen Manor. Und ich erhielt genau diesen Gehirnf… welchem ich entfliehen wollte. „Was hast du bei Aufgabe 5b? War bei 8i nicht…. oh verdammt…. und heute Nachmittag? Lernst du noch? Hey, wie ist jetzt dies….“ schallte es in traumhaften Surround um mich herum.
Natürlich auch während dem Mittagessen, welches man auf einer Betontreppe sitzend vor der Halle einnehmen musste.
Zwei Stunden können entsetzlich lang sein.

Diagonal vor mir links hat sich Mister Redundant platziert.
Zwei Hefter, zwei Stempel, zwei Flaschen Getränke, jeden Stift und Marker in zweifacher Ausführung, zwei Rechner.
Ich blickte auf meine Tischplatte. Ein Füllfederhalter, die Patrone mit halbem Füllstand und eine leere im rückwärtigen Teil des Schreibers. Ja, ich schreibe mit Füllfeder, finde dies zum einen stilvoll, zum anderen unterstützt es die Lesbarkeit meiner Schrift, was durchaus zum Killerkriterium werden könnte.
Daneben liegt ein Korrekturband, Tipex der Moderne, welches im Ursprung mit 12 Metern bestückt war. Dazu noch der obligat schmierende Kugelschreiber, ein kleines Karten-Lineal für eventuelle Grafiken und einen Marker, welchen man vor Inbetriebnahme kräftig schütteln musste. Als Rechenmaschine dient mir ein Texas aus den frühen 90er-Jahren, für welchen ich in der Sekundarschule schon gehänselt wurde. Der Lehrer empfahl den TI-40 Galaxy, welcher direkt bei der Schule zu erstehen war. Was meinem Vater dazu veranlasste, mittels seinem Junior ein Exempel zu statuieren. Schnurstracks marschierte er in den Interdiscount und erstand einen TI-31. Selbstverständlich demonstrierte mein Lehrer konsequent alle Operationen auf dem TI-40, indem er eine entsprechende Folie für den Hellraum-Projektor vorbereitet hatte und ich fühlte mich, als würde ich mit einer Schachtel Buntstifte in einem Adobe Illustrator-Kurs für Fortgeschrittene sitzen.
Ja, hätten wir damals schon Schulpsychologen gehabt, was wäre wohl aus mir geworden?

Wieder in der Gegenwart; die Prüfungen zogen sich durch, bis am Donnerstagmorgen.
Nur noch kurz Rechnungswesen, ein Selbstläufer, und die Integrierte Fallstudie. Bei selbiger sind Unterlagen gestattet, was soll schon passieren.
Ich habe gelernt, je sicherer ich mich fühle, desto furchtbarer das Ergebnis.
15 Minuten sass ich an der simplen Rechnung, ab welcher Menge sich die Eigenfabrikation gegenüber dem Einkauf von Fertigprodukten lohnt. Kam auf Lösungen von 5 Millionen, nachdem die vorgehende Rechnung bereits ergeben hat, dass man bei 50’000 Stück bereits günstiger ist und ähnliche phantastische Werte.
„Stoppen sie mit dem Lösen! Sie haben jetzt noch zwei Minuten um alle Lösungsblätter mit dem Namen zu beschriften.“

Ich darf vorstellen?

Fixkosten/(Fremdbezugskosten-variable Kosten)
Mein neuer Name.

Wenn ihr bei diesen Prüfungen etwas nicht habt, ist es Zeit.

Aber nun nur noch die Integrierte Fallstudie. Die Krux an dieser; wenn man hier unter vier fällt, sind alle voran absolvierten Prüfungen hinfällig. Man fällt durch.

„Öffnen sie die Umschläge, sie haben 150 Minuten Zeit“.

Zum ohnehin schon begrenzten Platz gesellt sich nun noch ein Bundesordner und ein Gesetzbuch. Die gestatteten Hilfsmittel sind eine nette Idee, doch nichts mehr als ein trügerisches Gefühl von Sicherheit.

Nachdem ich mir bis Aufgabe zwei schon beinahe einen Wolf geschrieben habe, warf ich einen Blick auf die Uhr und stellte fest, so komme ich nirgends hin. Der Frontseite entnahm ich, dass die Aufgabe vier punktemässig so richtig einschenkt. Also springe ich vor.
Berechnen sie die Amortisationszeit der Investition für die Weiterverarbeitung von Shrimps-Schalen. Die Zahlen dafür hatte man aus 5 Seiten Text zusammen zu klauben.
Nachdem ich einen Gewinn von 113 Millionen im ersten Jahr bei einer Investition von 1.8 Millionen errechnet hatte, wusste ich, hier muss irgendwo der Wurm drin sein. Oder ich muss sofort ins Schrimps-Geschäft einsteigen.
Die Zeit verrann und die kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte pausenlos „Du brauchst eine vier. Hallo, du brauchst eine vier. Hörst du mich? Eine vier. Hallo, hallo? Jemand da? Seh doch, dass Licht brennt. Du brauchst übrigens eine vier.“
Das Husarenstück, diese kleine Stimme zu ignorieren, die komplette Aufgabe zu überspringen und weiter hinten fortzufahren gehört unabhängig vom Ausgang dieser Prüfung zu meinem ganz persönlichen Erfolgserlebnis.
Meine Schrift wurde zusehends unleserlicher, weil mir ein kleines weisses Kaninchen in einem fort eine Uhr auf den Kopf haute. In der letzten Minute hatte ich tatsächlich bei jeder Aufgabe ein paar Zeilen oder Berechnungen hinzugefügt. Ein weiser Lehrer sagte; Wenn ihr nichts hinschreibt, habt ihr garantiert null Punkte, steht irgendwas, besteht eine Chance, dass irgendwas bewertet wird.

Wir werden sehen.
Das Gröbste ist durch und mittlerweile wache ich auch morgens nicht mehr auf und erschrecke, weil ich doch pünktlich zur Prüfung erscheinen muss.

Das Rechtliche Wissen, den Taxifahrer auf Schadenersatz zu verklagen hätte ich nun, aber ich bin zu faul zum Schreiben.

Über RAB

Ein Schreiberling mit nüchternem Blick auf das Leben, beim Versuch, selbiges aus satirischer Sicht etwas angenehmer zu bewältigen.
Dieser Beitrag wurde unter He works hard for the money, Vom Leben und gelebt werden abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.